Zum Einfluss von Video‑ und
Fernsehgewaltdarstellungen
auf Kinder und Jugendliche
Die
öffentliche und wissenschaftliche Debatte über die Frage, ob und ggf. in
welcher Form Gewaltdarstellung im Fernsehen, in Kinofilmen, Computervideos und
im Internet Gewaltreaktionen hervorbringt, ist bis heute nicht verstummt und
hat durch die Amokläufer von Brandenburg, Meißen, Freising, Zug und Erfurt neue
Aktualität erfahren. Einerseits wird behauptet, zahlreiche wissenschaftliche
Untersuchungen in der Vergangenheit hätten einen eindeutigen Zusammenhang
zwischen Gewalt‑Videokonsum und einer daran anschließenden sogenannten
„reaktiven erhöhten Aggressivität" heraus-gefunden; andererseits wird
darauf hingewiesen, die menschliche Aggressivität sei mehrfach bestimmt und die
Schlussfolgerung, Gewaltdarstellung über die Me-dien führe zu aggressiven
Einstellungen sei deshalb nicht zwingend, weil auch denkbar sei, dass bereits
aus anderen Gründen aggressive Kinder sich besonders aggressive Filme
anschauen.
In
der Vergangenheit wurden hauptsächlich vier Hypo-thesen bezüglich eines
Einflusses der Medien auf Gewalttaten diskutiert:
1.
Stimulationshypothese:
Anhänger
dieser Sichtweise gehen davon aus, dass eine festzustellende
Aggressionssteigerung nach dem Betrachten von entsprechenden Gewaltszenen in
be-wegten Bildern zu einem Modell‑Lernen oder Imitationsverhalten führt,
was lerntheoretisch zu erklären sei: Die aggressiven angeschauten Szenen werden
später einfach aufgenommen und nachgemacht. Ins-besondere seien es die
Vorschulkinder, da diese vornehmlich durch Imitation lernen und ausprobieren
2.
Habitualisierunghypothese:
Vertreter
dieser Hypothese sind der Auffassung, dass das wiederholte Beobachten
gewalttätiger Szenen-inhalte bei den Filmkonsumenten einen Gewöh-nungseffekt hervorrufe:
Den Betreffenden würden die aggressiven Bilder nicht mehr nahe gehen, sie
würden sich gleichsam an die Bilder gewöhnen, ohne dabei selbst aktiv aggressiv
zu werden. Mit anderen Worten: Es wird angenommen, das häufige Anschauen führe
zu einer "Abstumpfung", die Betreffenden würden emo-tional immer
weniger berührt werden und damit verrin-gere sich auch das Risiko, dass sie
reaktiv aggressiv werden würden.
3.
Reduktionshypothese:
Ihre
Vertreter machen sogar geltend, das Beobachten von Gewalt führe geradezu zu
einer Abfuhr von aggressivem Potential im Sinne einer "Zuschau-er‑Kartharsis".
Die Zuschauer würden sich durch ihre starke Identifikation mit den an der
Gewalt Beteiligten ihrer eigenen Aggressionen "entledigen", müssten
da-durch später gerade nicht aggressiv werden, weil stell-vertretend diese
Aggression im Film und über den Film abgeführt worden sei.
4.
Inhibitionshypothese:
Bei dieser Hypothese geht
man davon aus, dass nicht nur eine Gewöhnung (wie der
Habitualisierungs-hypothese) an das aggressive Geschehen stattfindet, sondern,
dass das Anschauen Angst hervorruft und schlussendlich zu einer Vermeidung
eigener aggressiver Handlungen führt.
Jede der genannten
Hypothesen kann im Einzelfall zutreffen bzw. mehr oder weniger stark ausgeprägt
einen Einfluss auf das weitere Verhalten der Film-konsumenten ausüben.
Bei
der Stimulationshypothese spielen ‑ dies ist auch die heutige aktuelle
Auffassung ‑ Zusatzfaktoren eine Rolle, die mitentscheiden, wie sich der
betreffende Filmkonsument letztendlich verhält. Als solche Zusatz‑ oder
Co‑Faktoren sind zu nennen: Eine besonders problematische
Persönlichkeitsstruktur des Beobachters: eine gute oder schlechte Fähigkeit,
sich einzufühlen und mitzufühlen (Empathiefähigkeit) müssen hier genannt werden
sowie eine damit verbundene Identifikationsfähigkeit, des Weiteren das Alter
der Kon-sumenten, ihre Intelligenz und ihre Beeinflussbarkeit. Ferner sind es
die Rahmenbedingungen beim Betra-chten der Filme und dies sowohl in Bezug auf
die un-mittelbare Umgebung, als auch in Bezug auf den aktuellen
soziokulturellen Hintergrund. Schließlich ent-scheidet die Art der Darstellung
brutaler Inhalte wesent-lich mit, was nach dem Anschauen von Gewaltszenen
passiert. Immer dann, wenn nach dem Anschauen von Gewaltszenen eine frustrierende
Situation gegeben ist, steigt das Risiko für eine Gewaltbereitschaft. Man
spricht von sogenannten „postkommunikativen Frustra-tionssituationen".
Bekannt ist, dass sich unter
den jugendlichen "Vielsehern" insbesondere solche häufig finden, die
Stö-rungen im Beziehungsbereich aufweisen oder Persön-lichkeitsauffälligkeiten
zeigen. Immer wieder handelt es sich um Jugendliche mit Problemen bei der
Aggressionsbewältigung, da sie nicht gelernt haben, mit Frustrationssituationen
umzugehen.
Die in der Mitte der 90er
Jahre in Kalifornien durchgeführte "National Television Violence
Study" konnte zeigen, dass die unterschiedlichen Inhalte und Umstände der
Gewaltdarstellung sowohl zu einer Erhöhung der Aggressionsbereitschaft, als
auch zu einer Verminderung führen können: Sie können Angst erhöhen oder aber
auch reduzieren im Sinne der Stimulations‑ und Reduktionshypothese. Eine
gleichsam automatische 1:1‑Korrelation zwischen Gewaltdar-stellung und
hieraus sich ergebenden Konsequenzen erneuter reaktiver Gewalt gibt es jedoch
nicht. Diese Studie zeigte, dass es insbesondere jene Gewaltfilme sind, die man
als besonders gefährlich einschätzen muss, die zu direkten aggressiven Gedanken
und Überlegungen führen bzw. solche Gedanken stimu-lieren. Eindeutig hat sich auch
gezeigt, dass das Anschauen von Gewaltvideos zu einer Verminderung von
Mitgefühl und positivem sozialem Verhalten führt.
Auf eine erst in den letzten
Jahren aufgekommene Problematik muss in diesem Zusammenhang hingewie-sen
werden: der Interneteinfluss auf Gewaltfantasien von Kindern und Jugendlichen.
Einer im Jahre 2001 veröffentlichten Studie zufolge benützen in den USA 89% der
Teenager einen Computer und 61% surfen im Internet. 14% berichteten, dass sie
sich Dinge anschauen würden, die sie ihren Eltern lieber nicht erzählen
wollten. Vermehrt stellt sich die Frage, ob die Anonymität im Netz das
Interesse an Verbotenem, an Pornografie und Spektakulärem (Satanismus, Chatroom
für Suizidale etc.) fördert. Zunehmend gibt es Beispiele dafür, dass suizidale Jugendliche
sich im Internet absprechen, um dann gemeinsam einen realen Suizid-versuch zu
begehen! Ungelöst ist hierbei die Frage, wie wir es vermeiden können, dass
Risikogruppen von psy-chisch auffälligen Jugendlichen im Internet
Gleich-gesinnte finden, die sich zusammenschließen und gegenseitig negativ
verstärken, um dann entspre-chende Handlungen vorzunehmen, seien sie aggresiv
gegen sich selbst und andere gerichtet.
Zusammenfassende
Schlussfolgerung:
Bei manchem
verhaltensauffälligen und insbesondere bei seelisch kranken Straftätern sind es
im Einzelfall Gewaltfilme bzw. ‑videos, die als "Vorlage" oder
Vorbild" für die Taten dienen, wobei ein jeweils individuelles Problem der
betroffenen Konsumenten in den Video‑Film‑Szenen aktualisiert und
gewaltsam "gelöst" wird. All jene Gewaltfilme, bei denen der
Gewaltakt zum Erfolg führt und dabei legitimiert wird, besitzen einen
erheblichen Imitationseffekt. Wird hingegen (wie z. B. in Japan vermehrt) bei
Gewalt-darstellungen in den Medien das körperliche Leiden der Opfer besonders
hervorgehoben, empfinden die Zuschauer vermehrt die Gewalttaten als
abzulehnende schändliche Handlungen, die dann im Anschluss an das Anschauen
keine reaktive Gewalt auslösen.
Medienerziehung und
Medienethik müssen mehr als bisher entwickelt und gefördert werden, ohne dass
wir Verteufelungs‑ oder Verharmlosungstendenzen anheim-fallen sollten.
Gewaltdarstellungen im Fernsehen ma-chen nicht automatisch (in einer 1:1‑Korrelation)
gewalttätig; bei einer Risikogruppe hingegen führt sie zu einer Imitation und
Stimulation. Das Internet macht nicht suchtkrank, aber es kann beim Surfer
bereits latent vorhandene Suchtpotentiale verstärken. Eltern, Erzieher und
Erwachsene müssen in ihrem Fernseh-Konsum‑Verhalten Vorbilder sein,
genauso, wie dies für den Umgang mit den legalen Drogen Nikotin und Alkohol zu
fordern ist.
Prof. Dr: med. G. Klosinski, ärztlicher Direktor der Abt. Psychatrie und Psychotherapie im Kindes‑ und Jugendalter der Universität Tübingen.